Verfärbungen
„Wie heißt das denn jetzt, was im Herbst mit den Blättern
passiert?“ Geduldig warten sie während wir auf einer Bank in der Sonne sitzen
und mir das richtige Wort nicht einfallen will. Inzwischen können meine zwei
amerikanischen Freunde so gut Deutsch das es um Feinheiten geht, die mich zum
Schwitzen bringen. Viele Fragen, die ich mir selbst noch nie bewusst gestellt
habe- Worte und ihre Bedeutung, ihr Klang. Ich mag den Facettenreichtum von
Sprache, doch bin ich ihm gewachsen oder ist mir selbst unerklärlich, woher
manche dieser Worte kommen, die da aus meinem Mund purzeln? „Die Blätter
wechseln ihre Farbe“ hört sich falsch an, versuche ich laut zu denken. „Bunt
sind schon die Wälder“ summt durch meinen Kopf, das hilft auch nicht. Welche
Herbstlieder und Gedichte kenne ich denn noch? Dann liegt es mir doch auf der
Zunge: Die Blätter verfärben sich. „Oh, eines der bösen Ver-Wörter“, lacht er. „Aber
die sind doch nicht alle negativ“, versuche ich die Schönheit meiner
Muttersprache zu verteidigen, „denke nicht nur an verlieren und verdursten,
sondern auch an vergeben und verloben.“
Stunden später muss ich nochmal an dieses Gespräch denken-
an Veränderungen für die mir die Worte fehlen und die Frage, ob man
Verfärbungen positiv oder negativ bewerten soll.
Verfärbungen.
Die kleinen Lachfältchen in meinen Augenwinkeln, die mich aus dem Spiegel
angrinsen; die ein oder andere Macke, die ich nicht übernehmen wollte und jetzt
doch zum Vorschein kommt; manche Namen, die ich nicht mehr so schnell wie früher
bekannten Gesichtern zuordnen kann. All die Dinge, die ein bisschen sind wie ungewollt gefärbte rosa Unterwäsche, man hätte
gut darauf verzichten können, aber man
kann damit leben.
Und bei den Blättern ist es doch eine Augenweide. Das Grün
ist in Person ein wassersparender Schwabe, wenn er geht, können rot und gelb
endlich glänzen.
Verfärbungen. Sommersprossen und lichte
Strähnen vertreiben das winterblass. Erfahrungen und die Weisheit der Jahre beschreiben
leere Seiten. Der Charakter bekommt Tiefen und Kanten, will nicht mehr nur
anecken, sondern auch abfärben. Und wenn der Himmel sich verfärbt, dann spannt
er einen weiten Bogen zwischen noch nicht und schon jetzt, zwischen Sichtbarem
und Unsichtbarem, zwischen meinem Vertrauen und seinen Verheißungen.
Wer dem sich anvertrauet, der hat das beste Teil, das höchste Gut erlesen, den schönsten Schatz geliebt; sein Herz und ganzes Wesen bleibt ewig ungetrübt. (Paul Gerhardt)
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