Gewinnen und Verlieren
Sie sitzt mal wieder auf dem Gewinnerplatz, hieß es so oft.
Es war der Platz ganz rechts auf dem braunen Sofa, direkt neben der kleinen
Stereoanlage, auf der sie die Kassetten abspielten, die wir in unserer
kindlichen Kreativität mit Liedern und Geschichten besprochen hatten. Das
ältere Ehepaar, selbst kinderlos- er hager mit schlohweißem Haar und sie mit akkurat
gefärbter Dauerwelle, hatten uns Nachbarskinder als Enkel adoptiert. Als
älteste von uns Geschwistern habe ich viele Stunden bei ihnen verbracht und
wurde heiß und innig geliebt. Ich vermute die meisten meiner Siege waren darauf
zurückzuführen, dass sie mich gewinnen ließen. Viele meiner lustigen Zitate
wurden -wie als Erinnerungsschatz für die grauen Tage- notiert und bei
passenden Gelegenheiten wieder ausgegraben. Die Geschichte mit der toten
Zwetschge oder mein mit 4 Jahren erworbener LKW-Führerschein, der gefühlte Jahrzehnte
versteckt in einer alten Brieschachtel verziert mit dem Kindergebet: Jedes
Tierlein hat sein Essen, jedes Blümlein trinkt von dir …“an der Wohnzimmerwand
gehangen hatte. Ich sehe mich noch heute als 5-jähriges Mädchen mit meiner
Ersatzoma in der Terrassentür des schmalen Reihenhauses sitzen und sie sagte: „
Bald zieht ihr weg!“ und ich antwortete ihr mit meinem kindlichen Zeitverständnis:
„Das dauert doch noch lange, Sonja! Für sie muss es wirklich das Gefühl gewesen
sein, als hätten sie uns ein stückweit verloren, auch wenn wir immer mal wieder
zu Besuch kamen, war es nicht mehr dasselbe. Irgendwann war auch ich nicht mehr
das kleine Mädchen, das sie so gut gekannt hatten. „Die Zeit der Gummibärchen
ist vorbei, das war die beste Zeit, auch für uns Zwei“, schrieb sie mir Jahre
später.
Ich saß im Flugzeug, als ich die Nachricht las, dass sie
gegangen war. Obwohl ich wusste, dass es ihr schon eine Weile nicht so gut
ging, hatte ich das nicht so schnell erwartet. Noch am Morgen hatte ich eine
Karte an sie in einen irischen Briefkasten geworfen. Ich wusste gar nicht, ob
ich über den Verlust dieser treuen Weggefährtin traurig sein oder mich für sie freuen
sollte, dass sie nach den letzten eher einsamen und schweren Jahren endlich
gehen durfte. Im Supermarkt am Flughafen stach mir der Kochkäse ins Auge, in
Erinnerung an wertvolle Zeiten, habe ich ihn gekauft. Er schmeckt noch genauso
wie damals als er im Kühlschrank gegenüber von der besten Süßigkeitenschublade
des Universums stand und wir ihn
gemeinsam gelöffelt haben- nach Kümmel und Kindheit. Als ich ihren letzten
Brief auf meinen Schreibtisch fand, musste ich doch weinen, auch darüber dass
ich mir nicht die Zeit genommen hatte ihr zurückzuschreiben, bei ihr konnte man
sich sicher sein, dass jede noch so kleine Karte mit einer ausführlichen
Antwort belohnt wurde- eine meiner letzten Brieffreundinnen.
Ein paar Tage vorher war ich mit einer guten Freundin und
großem Rucksack durch die wilde Schönheit von Irlands Pampa gewandert und
zwischen Schafen und tausend Grüntönen und nach unserem gemeinsamen Gebet für
den Tag unterhielten wir uns über einen Text, den ich am Morgen in der Bibel
entdeckt hatte. Es ging darum, dass unser Leben auf der Erde mehr wie Zelten
ist und über die Sehnsucht nach einem ewigen Haus im Himmel in Gottes
Gegenwart. Ich dachte noch, wie gut passt dieser Text zu unserem
Unterwegs-Sein- zu diesem bewusst in den Tag leben und trotzdem wissen, dass
man noch nicht am Ziel ist. Tiefe Wahrheit- heute hat sie noch eine andere
Dimension bekommen. Sie hat ihr irdisches Zelt abgebrochen, aber ich habe große
Hoffnung auf ein Wiedersehen in einer Heimat, wo alles Sterbliche vom Leben
verschlungen, der größte Gewinn errungen ist. Mama schrieb: Nach all den Jahren,
in denen sie nichts davon wissen wollte, hat sie am Ende doch beim „…hast auch
unser nicht vergessen, lieber Gott, hab Dank dafür!“ Halt gefunden.
>>Und
doch sind wir voll Zuversicht, und unser größter Wunsch ist, das Zuhause
unseres ´irdischen` Körpers verlassen zu dürfen und ´für immer` daheim beim
Herrn zu sein. Daher haben wir auch nur ein Ziel: so zu leben, dass er Freude
an uns hat – ganz gleich, ob wir ´schon bei ihm` zu Hause oder ´noch hier` in
der Fremde sind. << 2.Kor. 5, 8+9
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