Das Glück von nebenan

Trotz meiner ausgefeilten Hebräischkenntnisse habe ich kein Wort verstanden, als sie mich von der Seite anquatschte und eigentlich hatte ich es eilig. "What time is it?" fragte sie mich ohne zu zögern und schon waren wir im typischen Smalltalk von "woher kommst du und was machst du hier?" Ihre dritte Frage hat mich wirklich überrascht: Warst du heute morgen in der Kirche? Wie kam sie dazu so etwas zu fragen, ich hatte nichts in dieser Richtung erwähnt und das wird man auf Israels Straßen normalerweise nicht gefragt. Ab diesen Punkt war ich mir sicher, dass es sich hier um keine ganz zufällige Begegnung handeln konnte. Sie erzählte mir, dass sie normalerweise auch in die Gemeinde ging, in der wir die Woche über unser Lager aufgeschlagen hatten. Und außerdem ihre halbe Lebensgeschichte: von ihrem freundlichen britischen Mann, der vor einigen Jahren gestorben war, der Tatsache, dass sie jetzt mit den Tieren auf dem Feld wohne und eine Herde Flöhe ihren Rücken verunstaltet hatte, ihren Depressionen und der Angst vor dem Sommer und dem herzensguten Studenten, den sie 1976 in Freiburg kennengelernt hatte. "Sag ihm Grüße, wenn du ihn siehst, sag ihm Grüße von Masal, das ist mein Name, das heißt Glück!" Sie hat mich echt gerührt in dem Moment, als sie mich zahnlückig angrinste und ich darüber nachdachte, dass das Glück ihr zwischen den Fingern zeronnen war, aber sie die Hoffnung nicht aufgegeben hatte. Sie nahm mein Angebot für sie zu beten gerne an. Die Bibelstelle rotierte in meinem Kopf, als ich die Straße weiterging und ich war froh, dass mich meine Eile und die Angst vor sprungbereiten Flöhen nicht davon abgehalten hatten ihr diese paar Minuten Aufmerksamkeit zu schenken. Ich hätte das unverhoffte Glück von nebenan nicht verpassen wollen.

Darauf wird der König ihnen antworten: ›Ich sage euch: Was immer ihr für einen meiner Brüder getan habt – und wäre er noch so gering geachtet gewesen – , das habt ihr für mich getan.‹ 
Mt 25, 40

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